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Lebensmittelallergien Frühe Exposition schützt Kinder vor Allergien

Bei den Lebensmittelallergien zeichnet sich ein Paradigmenwechsel ab: Wurde früher das Vermeiden potenzieller Allergene propagiert, sprechen immer mehr Studienresultate für eine frühe Exposition.

In der Regel harmlos, können Lebensmittelallergien auch schwerwiegende Folgen haben. Diese reichen von starken Durchfällen und Atemnot bis zu einem lebensbedrohlichen Kreislaufschock. Noch häufiger als Erwachsene reagieren Kinder allergisch auf Nahrungsmittel. Ganz oben auf der Liste stehen dabei Erdnüsse, Eier, Milch, Sesam, Fisch und Weizen. Was dabei bis vor kurzem als empfehlenswert galt, stellt sich zunehmend als falsch heraus: Anders als angenommen, scheint nämlich ein frühzeitiger Verzehr der risikobehafteten Nahrungsmittel die Entstehung von Allergien nicht zu fördern, sondern vielmehr zu verhindern. Hinweise darauf liefern nun auch die Ergebnisse einer neuen britischen Studie .¹

Bilanz im Alter von drei Jahren

Die darin einbezogenen Kinder, rund 1200 dreimonatige Säuglinge, waren bis dahin nur gestillt worden. Eine Hälfte der Mütter wurde daraufhin angehalten, weitere drei Monate lang ausschliesslich zu stillen. Die andere Hälfte sollte nach und nach folgende Lebensmittel in die Ernährung des Kindes einführen: Kuhmilchjoghurt, Erdnüsse, gekochte Hühnereier, Sesam, weissen Fisch und Weizen. Bei Säuglingen, die schon zu Beginn allergisch auf einzelne dieser Nahrungsstoffe reagiert hatten, wurde das betreffende Lebensmittel von der Liste gestrichen, alle anderen aber darin belassen. Als die Kinder das dritte Lebensjahr erreicht hatten, zogen die Studienautoren, unter ihnen Michael Perkin von der University of London und Gideon Lack vom King's College in London, Bilanz.

Auf den ersten Blick sah es so aus, als ob kein grosser Unterschied zwischen den beiden Ernährungsarten bestünde: In dem Kollektiv, das frühzeitig den allergenen Lebensmitteln ausgesetzt war, reagierten bei Studienende 5,6 Prozent der Kinder allergisch auf einen oder mehrere der getesteten Nahrungsstoffe. In der anderen Gruppe waren es 7,1 Prozent. Ein kontrastreicheres Bild ergab sich, als die Wissenschafter nur die Daten jener Kinder auswerteten, deren Mütter die Vorgaben konsequent befolgt hatten – was oft nicht der Fall war.

Unter solchen Umständen schien die zeitige Einführung der risikobehafteten Nahrungsmittel deutlich vorteilhafter zu sein. In dieser Untergruppe entwickelten jedenfalls nur 2,4 Prozent der Kinder eine Lebensmittelallergie. In der anderen waren es mit 7,3 Prozent dreimal mehr. Bei Erdnüssen betrugen die entsprechenden Allergieraten 0 und 2,5 Prozent, bei Eiern 1,4 und 5,5 Prozent, und bei den anderen Nahrungsmitteln lagen sie deutlich unter 1 Prozent.

Wie aber steht es um den längerfristigen Nutzen der frühen Exposition? Dieser Frage sind die britischen Forscher in einer weiteren Studie nachgegangen.², ³ Die daran beteiligten Probanden, rund 640 vier- bis elfmonatige Kinder mit hohem Allergierisiko, hatten bis zum Alter von fünf Jahren keine oder regelmässig erdnusshaltige Lebensmittel erhalten . Am Ende litten in der ersten Gruppe 14 Prozent der Kinder an Erdnussallergie, in der zweiten hingegen nur 2 Prozent. Im zweiten Teil der Studie wurden die Eltern aller Kinder angewiesen, ihren Sprösslingen ein weiteres Jahr lang gar keine erdnusshaltige Kost (mehr) zu geben. Anders als befürchtet, nahm die Rate an Allergien daraufhin aber nicht zu – das heisst, selbst nach einjährigem Verzicht auf Erdnüsse blieb der Schutz, den die frühzeitige Einführung solcher Nahrungsstoffe vermittelt hatte, weiterhin bestehen.

Mehr als eine Unverträglichkeit

Sollten sich die Erkenntnisse der letzten Jahre weiter bestätigen, dürften sie zu einem Paradigmenwechsel führen, sagt Peter Schmid-Grendelmeier von der Allergiestation am Universitätsspital Zürich. «Denn sie widerlegen, was wir den Eltern lange Zeit geraten haben.» Viele im Kindesalter auftretende Nahrungsmittelallergien verschwänden mit der Zeit zwar wieder, solche gegen Erdnüsse meist aber nicht. Sie seien zudem oft besonders schwerwiegend. Denn die Proteine von Erdnüssen würden, anders als etwa jene von Obst, weder von Hitze noch von Magensäure zerstört und gelangten daher unverändert in den Organismus.

Wie der Allergologe betont, würden Nahrungsmittelallergien häufig mit Unverträglichkeiten verwechselt. Sehr viel weiter verbreitet, beruhten Letztere aber nicht auf spezifischen Immunreaktionen, sondern auf unterschiedlichen, teilweise noch unbekannten Störungen, bei deren Entstehung die Darmbakterien vermutlich eine wichtige Rolle spielten.

Quelle NZZ von Nicola von Lutterotti

¹ NEJM, Online-Publikation vom 4. März 2016; ² idem; ³ NEJM 372, 803–813 (2015).

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